Textproben aus: Marco und der einäugige Pirat


 Segelschiffe

Das passiert --- und noch viel mehr


Schiffbrüchig Kanuflotte Die Lucy Morgan erobert Panama
Schiffbrüchig Indianische Pirogen Die Lucy Morgan erobert Panama
    Die Sonne brannte. Er fühlte sich durstig, aber das Wasser, das mit jeder kleinen Welle über seine Lippen spülte, war salzig und bitter und ekelhaft. Seit vielen Stunden trieb Marco im Meer. Automatisch wollte er Schwimmbewegungen machen, aber alles, was er noch mit großer Anstrengung schaffte, war, den Kopf über Wasser zu halten. Und das wahrscheinlich nicht mehr lange. Nicht mehr lange. Nicht mehr ...
    Sein Gesicht wurde auf einmal über den Wasserspiegel gehoben, und ein Teil seines Oberkörpers noch dazu. Etwas Bewegliches, Lebendiges hatte sich unter ihn geschoben. Seine Hand fühlte etwas Kaltes, Glattes, das, durch die Berührung erschreckt, sich blitzartig zurückzog. Jetzt war Marco wieder wach, die kurze Verschnaufpause hatte ihm seine Sinne zurückgegeben. Er spürte einen Stoß an seiner Seite und fühlte, wie er durchs Wasser geschoben wurde. Er konnte nicht sehen, was geschah, doch ihm fielen Geschichten ein, in denen Menschen durch Delfine vor dem Ertrinken gerettet wurden.
    Marco hatte kein Zeitgefühl, wusste nicht, wie lange er so übers Meer bugsiert wurde. Ein paarmal wurde er ohnmächtig. Dann hob ihn sein Retter jedes Mal sorgsam so weit aus dem Wasser, dass er weiteratmen konnte. Er fühlte jetzt fast gar nichts mehr, nicht einmal diesen unerträglichen Durst. Nur ein Kratzen an seinen Knien. Der Druck auf seine Seite hatte aufgehört. Er lag auf dem Meeresgrund, aber wenn er den Kopf hob, konnte er atmen. Näher konnte ihn der Delfin nicht an den Strand bringen, jetzt musste er sich selber helfen. Irgendwie kam Marco auf die Füße zu stehen. Wenige Schritte brachten ihn auf einen weißen, makellosen Sandstrand. Als er sich umdrehte, stieg eine kleine Fontäne aus dem Wasser.
    "Igikiggegikikok", kickerte der Delfin und brachte sich mit ein paar Schwanzschlägen aus der gefährlich flachen Zone. Dann war er verschwunden.
    „Ich hole deinen Freund", hatte Marco gehört, aber das war reine Fantasie. Nur Menschen sprechen, und Delfine sind keine Menschen. Der feste Boden unter seinen Füßen brachte Kräfte zurück und damit auch den Durst. Er hätte sein letztes Hemd für einen Schluck Wasser gegeben. Blödsinn! Er hatte nur dieses eine, salzwassergetränkte Hemd, und das brauchte er als Sonnenschutz. Trinken. Er musste Wasser finden, das sollte nicht allzu schwierig sein. Alle Schiffbrüchigen berichteten, dass sie irgendwo eine Quelle gefunden hatten. Aber diejenigen, von denen es keine Berichte gab – hatten die auch eine Quelle gefunden?



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    Der Wind hatte aufgefrischt. Die Morning Sun schoss jetzt unter vollen Segeln durch das Wasser. Sie war wirklich ein schnelles Schiff – für ihre Zeit. In einem modernen Segelrennen wäre sie allerdings mit großem Abstand als Letzte durchs Ziel gekommen. Sie erreichten die Insel, von der der Bootsmann gesprochen hatte, ohne jeden Zwischenfall.
    Das Dorf, das sie in einer kleinen, tiefen Bucht entdeckten, lebte offenbar vom Fischfang. Es bestand aus etwa zwanzig Hütten, und am Strand lagen mindestens ebenso viele Boote. Kaum hatten die Dorfbewohner das für sie riesengroße Schiff entdeckt, da wimmelte die Bucht schon von Kanus. Auf Carlottas Rat durfte aber keiner der Indios das Schiff betreten. Auf ihren Forschungsreisen hatte sie erfahren, dass ganze Indiovölker durch eingeschleppte Krankheiten ausgestorben waren. Der Gefahr wollte sie vorbeugen.
    Der Versuch, sich zu verständigen, geriet zur Groteske. Alle gängigen Sprachen wurden ausprobiert: Englisch und Spanisch, Holländisch und Portugiesisch. Einer der Matrosen war Schwede, aber auch er konnte sich nicht verständlich machen. Noch weniger half es, dass jeder meinte, je lauter er schrie, desto leichter könnte man ihn kapieren. Immer wieder versuchten die Indios, die Bordwand hochzuklettern, und mussten manchmal ziemlich unsanft mit langen Stöcken zurückgestoßen werden. Schließlich rief Martin nach unten: „Mole, komm mal rauf. Du lebst schon lange in dieser Gegend. Kannst du ein paar Worte von ihrer Sprache?"
    Der Afrikaner kletterte aus der Luke und trat ans Schanzkleid. Kaum wurden die Indios seiner ansichtig, da erscholl ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens. Nur Sekunden später ging ein Hagel kleiner Giftpfeile auf das Deck nieder. Die Kanus wendeten und ruderten mit höchster Geschwindigkeit zum Land zurück. Noch ehe jemand begriffen hatte, was eigentlich geschehen war, waren sämtliche Indios, Männer, Frauen, Kinder, im Wald verschwunden. Nur ein paar zurückgelassene Haustiere – Schweine, Ziegen und Hühner – zeigten an, dass es sich hier nicht um eines der ausgestorbenen Dörfer handelte, von denen Carlotta erzählt hatte.
    Während alle noch in höchster Verwirrung und Verwunderung auf das verlassene Dorf starrten, sah Marco plötzlich, wie Pedro zusammensackte. Er wollte die paar Schritte zu ihm hinüberlaufen, aber seine Beine versagten ihm ebenfalls den Dienst. Er guckte an sich herunter. Ja, die Beine waren da, aber er konnte sie nicht mehr fühlen. Er konnte überhaupt nichts mehr fühlen. Ihm wurde schwindlig. Dann war nichts mehr!


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    Sie war eine Schönheit. Sie war die Miss Universum unter den Schiffen aller Meere. Sie war schlanker als alle ihre Konkurrentinnen, ihr Körper aus poliertem Eichenholz reflektierte die Sonnenstrahlen nur wenig schlechter als ein Spiegel. Voll aufgetakelt trug sie mehr Segel als jedes andere Schiff ihrer Größe. Auf ihrem Deck waren nur zwei Kanonen montiert. Nicht die kleinen Drehbassen, die man sonst oft sah – von denen saßen ein halbes Dutzend auf dem Schanzkleid – , sondern richtige Geschütze, die Doppelrohre dreimal so lang wie auf den Schiffen Seiner Majestät. Sie ließen sich drehen und konnten in jede beliebige Richtung feuern, anstatt nur Breitseiten abgeben. So etwas hatte die Welt noch nie gesehen. Das Schmuckstück auf dem Quarterdeck war die Schiffsglocke vom Wrack der Santa Lucia, so perfekt poliert, dass sie wie pures Gold glänzte. Jemand hatte gesagt, sie sei ein Glücksbringer, und so gut wie alle Matrosen an Bord legten mindestens einmal am Tag die Hand auf die Glocke.
    Die Lucy war nicht am Kai vertäut sondern lag mitten im Hafen vor Anker. Martin hatte zu dieser Vorsichts-maßnahme gegriffen, weil nicht alle Bewohner der Stadt von seinem Schiff so begeistert waren wie er selber. Viele der frommen Bostoner betrachteten es als eine Verhöhnung göttlicher Naturgesetze, dass sich jemand mit diesem Segler aufs Meer wagen wollte. Sie waren fest davon überzeugt, dass die Lucy schon bei geringem Wind kentern und die ganze Besatzung in den Tod reißen würde.
    Rund um die Lucy war das Hafenbecken von Ruderbooten bevölkert. Carlotta fühlte sich an den Besuch bei den Indios erinnert. Diese Menschen würden aber bestimmt keine vergifteten Pfeile verschießen, selbst wenn für viele die Anwesenheit einer Frau auf dem Schiff ein schlimmer Stein des Anstoßes war. Zu allem Überfluss war sie auch noch die Schiffsärztin – und sie war gekleidet wie ein gewöhnlicher Matrose. Eine Frau in Männerkleidern, das gehörte sich wirklich nicht! Die Menschen in den Booten waren Neugierige aus der Stadt und die Honoratioren – beileibe nicht alle, aber doch eine ganze Anzahl, die dem schnittigsten Schiff der Welt eine gute Reise wünschen wollten. Der Bischof gehörte zu den Zweiflern und hatte nur einen jungen Priester geschickt, um einen Segen über Schiff und Besatzung zu sprechen. Als die kurze Zeremonie vorüber war, salutierte Martin in Richtung auf den Bürgermeister und den Priester und sagte mit ruhiger Stimme zu Kees: "Anker lichten"
    "Lichtet Anker!", dröhnte die Stimme des Bootsmanns über das Deck. Die Ankerwinde rasselte, zwei kleine Segel waren im Nu gehisst, die Lucy glitt langsam auf die Hafenausfahrt zu. So elegant war ihre Bewegung, so leicht folgte sie den Kräften des Windes und des Steuerruders, dass auf den begleitenden Booten spontaner Applaus ausbrach.


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    Muss ich haben/verschenken
    Marco stand mitten in einer Gruppe von Männern und fühlte sich miserabel. Es goss wie aus Kübeln. Von seiner Schulter schräg über die Brust lief der Riemen einer Muskete, die schwerer wog als ein prall gefüllter Rucksack vor einer Urlaubsreise. Vor seinen Augen breitete sich eine weite Ebene aus. Ein Schlachtfeld. Wohin er auch blickte, überall lagen Männer, zum Teil in grotesken Positionen, aber alle bewegungslos. Hier und da ein Pferd, ebenfalls tot oder fast tot. Eines sah er, das sich mühte, auf die Hinterbeine zu kommen und immer wieder zusammenbrach. Er wäre gern hingegangen und hätte seinem Leiden ein Ende bereitet. Im Film mussten verletzte Pferde immer erschossen werden. Aber er traute sich nicht. Er wusste auch nicht, wie man mit einer Muskete umging.
    Nur zehn Schritte weiter waren einige Berittene, unter denen offenbar der Anführer war. Sie schienen zu diskutieren, was als nächstes zu tun sei. Von hinten und von den Seiten sammelten sich immer mehr Männer um sie herum. Tausend mochten es sein, vielleicht mehr, eine richtige Armee. Tausend Menschen, die miteinander und durcheinander sprechen, entwickeln einen Riesenlärm. Ein Pistolenschuss brachte alle abrupt zum Schweigen. Der Anführer hatte ihn abgegeben. „Still!", schrie er und legte eine Hand hinters Ohr, um besser zu hören. Jetzt war es deutlich vernehmbar: ein Dröhnen und Donnern von weit her, von der anderen Seite des Schlachtfeldes.
    Der Anführer fasste einen schnellen Entschluss. „Alle Reiter nach vorn!", rief er. „Alle anderen nach Süden. Sofort, schnell, rennt um euer Leben!". Der Ruf pflanzte sich fort, und Marco fühlte sich in einer Masse rennender Männer mitgerissen. Gern hätte er die Muskete fortgeworfen, die wirklich hinderlich war, aber er hatte weder den Platz noch die Zeit, sich ihrer zu entledigen. Das Dröhnen kam näher, und die Flucht wurde hektischer. Einige Männer warfen sich hinter einem einzelnen Felsen zu Boden, und Marco blieb bei ihnen. Als er sich umsah, wurde er Zeuge einer Szene, wie sie auch der großartigste Westernfilm nie hätte darstellen können. Und jetzt wusste er auch, wo und wann er sich befand: Mit Henry Morgan beim Angriff auf Panama im Jahre – was hatte der sterbende Alte doch gesagt? – sechzehnhundert und irgendwas.
    Noch floh ein langsam dünner werdender Strom von Fußsoldaten an ihm und seinen Begleitern vorbei. Auf der Ebene hatten sich an die hundert Reiter in einer Linie aufgestellt, und auf sie zu raste, von Sekunde zu Sekunde näher kommend, eine nicht enden wollende Masse von Rinderleibern und -hörnern. „Eine Stampede", dachte Marco. „Die überrennen alles, was ihnen vor die Hufe kommt." Die Todeswalze hatte die Reihe der Reiter beinahe erreicht, als diese sich in Bewegung setzte, schnell Geschwindigkeit gewann und schließlich die erste Reihe der Herde bildetete. Jetzt sah Marco, was sie bezweckten. Die Reiter begannen, einen weiten Bogen zu beschreiben, und die Stiere folgten ihnen blindlings, schnaubend, stampfend, die Hörner gesenkt, immer auf der Flucht vor den anderen, die von hinten nachdrängten. Bald wies der Bogen nach Norden, und die Herde stellte keine Gefahr mehr für die Fußsoldaten dar. Aber die Reiter ließen es nicht dabei bewenden. Sie machten weiter, bis die tödliche Lawine genau dorthin raste, wo sie hergekommen war: auf die Stadt Panama zu.

Ende der Leseproben