Textproben aus: Neapel sehen und sterben |
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Das passiert --- und noch viel mehr |
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Palazzo Donn'Anna | Haus über der Klippe | Brandis Pizzeria | Katakomben |
Es war ein arbeitsreicher Tag. In Merghellina, dem Stadteil am Strand
unterhalb des Neureichenviertels Posillipo, ragt der Palazzo Donn'Anna
ins Meer hinaus. Er könnte einmal einer der Sommersitze des Herzogs
von Trimonti gewesen sein und ist von gruseligen Legenden umrankt,
Intrigen und Verrat, Orgien und Mord. Verfallende Mauern im typischen
Pompeji-Rot, leere Fensterhöhlen, bei denen nicht klar erkennbar ist, ob
sie nur der architektonischen Form dienten, oder ob durch sie einst
elegante Hofdamen in prachtvollen Salons die viel besungene Caprisonne
im Meer versinken sahen. Wie in aller Welt so auch in Neapel, oder gerade
hier, wirken viele der alten, heruntergekommenen Herrschaftshäuser
einfach schäbig. Nicht dieses. Donn'Anna wartet würdevoll und melancholisch
auf bessere Zeiten. In seinem jetzigen Zustand sei der Palazzo ein
machtvolles Symbol des einstigen Reichtums und der schleichenden Dekadenz
unseres Helden, erklärt Falo. Elf Einstellungen hat er durchgepeitscht,
und nach jeder einzelnen musste die Szene noch einmal rekonstruiert werden,
damit ich für meine Arbeit den besten Bildwinkel, die optimale Beleuchtung
finde und auch – Colin ist da eisern! – die ausdrucksvollste Mimik festhalte.
Ein Standfoto, auch wenn es die selbe Szene wiedergibt, hat eben doch
völlig andere Gesetze als die bewegten Aufnahmen mit der Filmkamera.
Beispielsweise können wir uns die am besten erhaltenen Teile des
Gebäudes als Hintergrund auswählen und davor den mörderisch leutseligen
Bonvivant zeigen, den Falo in der kommenden Woche Szene für Szene
demontieren will.
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Wir fahren wieder zurück in Richtung Neapel, und irgendwann entdecken
wir eine kleine Abzweigung. Sie scheint zu einem der Häuser zu führen,
die hoch oben am Steilhang kleben. Wenn wir Pech haben, müssen wir die
ganze Strecke im Rückwärtsgang wieder herunterfahren. Nein, vor der
ersten feudalen Villa gibt es genug Platz, einen Jaguar zu wenden.
Der Mini schafft das spielend. Hier endet der Asphalt. Die Herrschaft
der beiden Häuser über uns hält nicht viel von befestigten Straßen oder
will sich vor Paparazzi schützen. Nicht, dass ich einer wäre, aber
woher sollen die da oben das wissen? Der Mini mag die Schlaglöcher gar
nicht. Wir lavieren uns nur langsam weiter, wie in einem raffiniert
gebauten Irrgarten auf dem Volksfest. Die nächste Hütte hat von gierigen
Fotografen bestimmt nichts zu befürchten, sie ist verlassen, die Fenster
blicken mit blinden, meist zerbrochenen Scheiben über den Golf. Die
Aussicht ist fast so großartig wie von meinem Studio in Vancouver.
Noch ein paar Haarnadelkurven bringen uns zur Rückseite des höchsten
und letzten Bauwerks an dieser Felsenwand. Es ist moderner und besser
erhalten, scheint aber auch nicht bewohnt, wenigstens nicht ständig.
Von unten habe ich gesehen, wie es über dem Kliff hängt, wie es eine
Schrunde zwischen zwei Felspfeilern überbrückt, eine trotzige Unterlippe
als Terrasse ins Leere hinausschiebt. Und kurz danach endet, was man
ohnehin keine Straße mehr nennen darf, wir stehen auf einer Wendeschleife,
groß genug, um auch vier oder fünf Autos zu parken. Ein guter
Ausgangspunkt für fanatische Bergwanderer.
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Wir biegen in die kleine Seitengasse, in
der Brandis Pizzeria ihre Berühmtheit genießt. Ja, berühmt ist sie. Wen
interessiert es schon, wer die Pizza Hawaii erfunden hat, oder die Pizza
mit vier Käsesorten. Aber aus diesem Hause, von Brandi persönlich, oder
vielleicht von einem Großvater mit mehreren vorangestellten "Ur-", stammt
die authentische, originale, oft kopiert und nie erreichte Pizza Margherita.
Der Vorfahr soll übrigens Esposito geheißen haben, nicht verwandt oder
verschwägert mit Gelsomina, sagt sie. Und die Pizza wurde zu Ehren des
Besuchs einer Königin Margherita komponiert, in den italienischen
Landesfarben grün-weiß-rot, mit Tomaten, viel Büffelmozzarella und jeder
Menge Basilikum. Das ist es natürlich, was auch wir essen werden, weswegen
Simone gerade hierher kommen wollte. Und ein schönes Glas Rotwein dazu,
heute muss ich ja nicht mehr arbeiten, und den Mini habe ich auch nicht mehr.
Die Einmündung der kleinen Gasse ist mit einer Barriere gegen Autos abgesperrt,
völlig unnötig, denn auf der einen Seite gewähren ein Zeitungsstand und weiter
oben die Gemüsestapel eines Lebensmittelladens gerade Platz für Hausfrauen,
die mit zwei schweren Einkaufstaschen Slalom laufen. Zwischen diesen beiden
Hindernissen hat Brandi auf der anderen Seite nach dem Reißverschlussprinzip
ein Podest in die Gasse hinausgebaut für die Touristen, die nicht gern
im Inneren des winzigen Restaurants sitzen. Zwei Tische sind noch frei,
die Saison hat noch nicht richtig angefangen. Wir sind fünf Minuten vor
der Zeit, aber Simone ist schon da.
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Von den Katakomben hatte ich mir mehr erwartet. All diese Höhlen und
Gänge, versichert der Führer, sind meist natürlichen Ursprungs, wurden
aber seit dreitausend Jahren erweitert, verstärkt, umgebaut. Sie dienten
in römischen Zeiten als Wasserleitungen und Aquädukte, später zusätzlich
als Mülldeponien. Und wenn diese Abfälle wieder einmal eine Choleraepidemie
auslösten, legte man auch die Leichen hier ab. Fast jeder Palazzo besitzt
noch heute einen Zugang, eine ehemalige Zisterne, eine Treppe, einen Schacht
zu Napoli sottoterranea, dem unterirdischen Neapel. Die nächste Höhle ist
nicht mehr elektrisch mit der Oberwelt verbunden. Hier bekommt jeder eine
Kerze. Manchmal werden die Gänge eng und ich fühle, wie die Wände und
Decken näher und näher an uns heranrücken. All die ausgebleichten Skelette,
Tausende, Millionen, sie drängen sich durch die Wände. Ich bin der Kern,
das Ziel, das Zentrum ihrer Bewegung. Lautlos verengen sie den Ring um mich.
Meine Kleider ziehen sich an meinem Körper zusammen. Vor der nächsten
Passage lasse ich mich einige Schritte zurückfallen. Wenn ich den Gang
für mich alleine habe, wird es nicht ganz so schlimm. Ich will schon
aufatmen, gleich bin ich wieder in einem größeren, luftigeren Raum,
da packt mich der Berg. Er würgt mir die Luft ab, reißt mich in sein
Innerstes hinein. Ich lasse die Kerze fallen, die Dunkelheit umschlingt
mich, zieht, zerrt, reißt. Meine Hände schlagen ins Leere. Ich ersticke.
Ein Arm über meiner Kehle zieht mich rücklings weiter. Ich kann mich
nicht wehren, denn ich stehe nicht auf den Füßen, nur meine Absätze
schleifen über den Boden. Wenn ich mich sacken lasse, zerquetscht er
mit den Kehlkopf. Dies hat nichts mehr mit Klaustrophobie zu tun, dies
ist körperliche Gewalt, Kidnapping, Freiheitsberaubung, Geiselnahme.
An den Wänden des Ganges reiße ich mir die Handrücken blutig, kann
aber keinen Halt finden.
Ende der Leseproben |